Der Schatz auf dem Dach
Zeitungsbericht im Schwäbischen Tagblatt Tübingen von Uschi Hahn
Der Umbau der Zehntscheuer Reusten zu einem Bürgertreff und Kulturscheuer hat begonnen.
Der Schatz auf dem Dach
Die Reustener Zehntscheuer ist mit handgestrichenen wohl 450 Jahre alten Ziegeln gedeckt.
Die Sanierung alter Gemäuer birgt meistens Überraschungen. Aber damit hätte wirklich niemand gerechnet: Auf dem Dach der Zehntscheuer in Reusten liegen jahrhundertealte Ziegel. Der Förderverein will sie auf alle Fälle erhalten. Die Frage ist nur, wo.
USCHI HAHN
Reusten. „Erbaut im 18. Jahrhundert“, steht auf der Zehntscheuer in Reusten. Doch das hat Roland Fakler „noch nie geglaubt“. Der Ortshistoriker war „schon immer der Ansicht“, dass das ortsprägende Gebäude an der Stirnseite des Zehnthofs aus der selben Zeit stammt wie die quer davorstehende Kelter, die nachweislich 1575 gebaut wurde. Und er hat wohl recht, wie sich jetzt herausstellte.
Die Kelter dient seit über 250 Jahren als Kirche. Die Zehntscheuer diente seit 1852, als die Zehntabgabe in Württemberg aufgehoben wurde, ganz unterschiedlichen Zwecken. Nun soll sie zur Kulturscheuer umgebaut werden.
Ein Kreis von Ehrenamtlichen begann zwar schon im Jahr 2007 mit der Aufwertung des davor lange vernachlässigten Gebäudes. Zunächst wurde der Zehnthof gepflastert. Dann renovierten die Freiwilligen Putz, Boden und Tore des Mittelteils der imponierend großen, aus Feldsteinen, mit Ecksteinen aus riesigen Sandstein-Quadern errichteten Scheune. Jetzt ist dort ein schmucker Veranstaltungsraum entstanden.
Doch dann stockte der Umbau. Denn das Dach des denkmalgeschützten Gebäudes war undicht. Mindestens 200 000 Euro würde die Dachsanierung kosten, das war klar. Aber die klamme Gemeinde Ammerbuch wollte das Geld dafür nicht aufwenden. Erst als sich ein Förderverein für die Zehntscheuer gegründet hatte und ein Nutzungskonzept vorlag, bewilligte der Gemeinderat im vergangenen Jahr die nötigen Mittel.
Für Bauhistoriker ist das Dachgebälk der Zehntscheuer in Reusten eine Sensation. Zimmerleute nehmen jetzt die historischen Ziegel – hier auf der Südseite des Daches – ab.
Zuvor schaute sich der im benachbarten Oberndorf lebende Bauhistoriker Tilmann Marstaller die Zehntscheuer an. Er sei keineswegs im Auftrag des Denkmalamtes dort gewesen, sagt Marstaller. „Einfach nur so aus Interesse habe er sich das Dach von innen und außen näher betrachtet. Seither ist der Fachmann ziemlich aus dem Häuschen. Das mit der Erbauung im 18. Jahrhundert „kann man vergessen”, sagt Marstaller. Der Dachaufbau verweise eindeutig aufs 16. Jahrhundert. Doch nicht nur das Alter, das Marstaller jetzt auch noch mit einer dendrochronologischen Untersuchung beweisen will, machte ihn Staunen. “Die Konstruktion und der Erhaltungszustand” seien so außergewöhnlich, „dass einem der Mund offen bleibt“. Der Bauhistoriker ist überzeugt, dass sich nach der wissenschaftlichen Datierung der Holzbalken im Scheunendach herausstellt, „dass es sich hier um eine der tollsten Zehntscheuern in der Gegend handelt”. Das Gebäude sei von seiner bauhistoriehen Bedeutung vergleichbar mit dem Schwedenhaus in Altingen, sagt Marstaller. „Das ist die gleiche Kragenweite.“
Vor allem auf der Rückseite der Zehntscheuer bestehe die Deckung noch „zu vier Fünfteln” aus den historischen Ziegeln; handgestrichene Biberschwanzziegel – ein paar davon sogar mit Ornamenten verziert. Feierabendziegel ist der Fachbegriff dafür.
Weshalb die Arbeiter in den Ziegeleien zu früheren Zeiten bei manchen Ziegeln nicht nur mit den Fingern Ablaufrinnen fürs Regenwasser gestrichen haben, sondern die Mühe auf sich nahmen, den noch ungebrannten Lehm auch noch mit Mustern oder auch Sprüchen zu verzieren, weiß niemand so genau. Möglich, dass sie damit am Ende ihres Arbeitstages, am Feierabend also, dokumentieren wollten, wie viele Ziegel sie geschafft haben.
Jedenfalls sind diese besonderen Ziegel sehr begehrt. „Es gibt auch Feierabendziegel-Jäger“, sagt der Zimmermann Martin Held. Er steht mit seinen Mitarbeitern seit dieser Woche auf dem Gerüst und deckt das Dach ab. Die moderneren Ziegel, mit denen vor allem die Dach Vorderseite immer wieder ausgebessert wurde, wandern In den Bauschuttcontainer. Die handgestrichenen Exemplare aber stapeln die Zimmerleute vorsichtig auf dem Dachboden der Scheune.
Besonders angetan haben es dabei dem Fachmann die Dachziegel. Viele stammen seiner Ansicht nach nämlich noch aus der Bauzeit der Zehntscheuer, sind also 500 Jahre alt.
Nicht alle Balken sind noch so gut erhalten, dass sie auch die nächsten Jahrhunderte gut überstehen würden.
Vergangene Woche endlich wurde die Zehntscheuer eingerüstet. Zuvor allerdings schaute sich der dem Fachmann dabei die Dachziegel an.
Held ist selbst Mitglied im Fördervereinsvorstand, ebenso wie der Ortshistoriker Roland Fakler. Auch der Architekt des Umbaus Martin Gesk ist im Förderverein. Nach einer informellen Besprechung mit Tilmann Marstaller und der Restauratorin Julia Feldtkeller vor knapp zwei Wochen waren sie sich einig, dass sie ihren ursprünglichen Plan über den Haufen werfen müssen, das Dach komplett mit neuen Ziegeln einzudecken. Die handgestrichenen Bierschwänze sollen wieder aufs Zehntscheuerdach. Schließlich, so der Vereinsschriftführer Roland Fakler, „handelt es sich um einen einmaligen historischen Schatz, der erhalten werden muss”. Noch nicht ganz klar ist bisher, wo der Ziegelschatz das Zehntscheuerdach schmücken soll.
Einer der Feierabendziegel, die wohl seit dem 16. Jahrhundert auf dem Zehntscheuerdach in Reusten liegen.
Gut zu erkennen; die Ornamente und die von Hand gestrichenen Ablaufrinnen.
Manche im Ort halten die alten Lehmziegel mit ihrer 500 Jahre alten Patina für alles andere als eine Zierde und wollen sie nicht auf der weithin sichtbaren Vorderseite des Daches sehen. So hat sich der Ortsvorsteher Herbert Grab vehement gegen den „Flickenteppich“ ausgesprochen. Man hat sich schließlich auf einen Kompromiss geeinigt: Dort, wo die meisten alten Ziegel die Jahrhunderte überdauert haben, auf der Rückseite der Zehntscheuer also, sollen sie auch wieder drauf, ergänzt um jene, die auf der dem Wetter zugewandten Nordseite Hagel, Wind und Wetter getrotzt haben.
Entscheiden muss das alles sowieso das Denkmalamt. Für den 23. September ist ein Termin mit der zuständigen Behördenvertreterin angesetzt. Die Arbeiten am Dach der historischen Zehntscheuer in Reusten gehen derweil weiter. „Wir bereiten das Dach und die Lattung so vor, dass die alten Ziegel auf beiden Seiten drauf können“, sagt Martin Held.
Rings um den Zehnthof an der Durchgangsstraße in Reusten gruppieren sich die 1575 als Weinkelter erbaute und 1760 geweihte Kelterkirche, die wohl ebenfalls im 16. Jahrhundert errichtete Zehntscheuer und das Backhaus von 1855.
Der Ortshistoriker Roland Fakler nimmt an, dass ursprünglich auch das stattliche Haus direkt neben der Zehntscheuer zu dem Komplex gehört hat – als Verwaltungshaus. Der hier abgelieferte zehnte Teil der Ernte gehörte dem Dorfherren. Der war seit 1293 das Kloster Bebenhausen, nach der Reformation die Herrschaft Württemberg.
Nach Abschaffung der Zehntabgabe 1852 diente die Zehntscheuer ganz unterschiedlichen Zwecken. So wurde sie von 1927 bis 1965 als Turnhallenersatz genutzt, danach als Schafstall, Salzlager und auch als Stall für den Dorfbullen (Farren). Ein Teil der Scheune war bis 2010 bewohnt.